Große Wale, kleine Aufmerksamkeitsspanne

Drei Tage re:publica, drei Tage Reizüberflutung

„tl;dr – Too long, didn’t read“ – Zu lang, nicht gelesen. Das war das Motto der re:publica 19 in Berlin. Darum drehte sich letztlich das gesamte Festival. Nicht nur auf den Bühnen und Panels, auch in den Köpfen der Besucher, im Ansatz, in der Idee dahinter – so ging es jedenfalls mir:

Wir wollen immer besser, schneller, effizienter sein, Zeit sparen, überall gleichzeitig, virtuell, digital, schaffen dafür zweite Identitäten im Netz. Und schaffen es dabei nicht mehr, unsere Aufmerksamkeit für mehr als zehn Minuten vom Handy- oder Laptopbildschirm abzuwenden und zuzuhören. Einfach mal ein Buch zu lesen – z.B. Moby Dick, gebundene Ausgabe, 900 Seiten, 135 Kapitel (den Epilog ausgelassen), die quer über das re:publica-Gelände hingen. Oder einfach eine lange, gute Reportage, hinter der eine aufwändige Recherche steckt wie die zur Akte Hannibal der taz.

Wir schaffen es nicht. Weil wir täglich zugeknallt werden mit Text, Infos, Möglichkeiten, die wir im selben Moment nutzen könnten. Häufig dann aber nicht tun, weil wir in derselben Sekunde mit noch mehr Möglichkeiten zugeschüttet werden.

Die Konferenz versuchte in vielen Panels im Ansatz zu lösen: Wie bringe ich die Leute dazu, genau unser Produkt aus den Tausenden da draußen im Netz auszuwählen und die Aufmerksamkeit genau auf diese Info zu richten? Wo liegt die Zukunft unseres Medienkonsums?

Ein paar der Ideen sind mir dabei besonders im Kopf geblieben, vielleicht lohnt es sich, seine Zeit zu investieren und dafür sogar diesen Blogpost zu verlassen:

  1. Interaktive Karten, migrationtrail.com

Das Thema Migration ist wichtig. Doch die täglichen Meldungen über Geflüchtete, die im Mittelmeer ertrinken, Fotos überfüllter Schlauchboote, darauf Menschen in gelben Rettungswesten, sind dabei immer nur ein winziger Ausschnitt, ein Fragment aus dem Gesamtbild. Doch das Gesamtbild muss man verstehen, um Migration zu verstehen, um Fluchtursachen zu sehen und nicht nur die Auswirkungen vor der Haustür. Das steckt hinter Alison Killings Projekt migrationtrail.com. Klickt man auf diese Seite, bekommt man statt einer ausführlichen Reportage eine Karte zu sehen, darauf ein paar bunte Punkte: Das ist dann zum Beispiel die Syrerin Sarah Azmeh, 19, die sich auf den Weg nach Europa macht und das ihren Freunden per SMS gerade mitteilt. Danach begleitet man sie mit dem Finger auf der interaktiven Karte, hört sie im Podcast und kann vielleicht sogar nachempfinden, wie sie sich gerade fühlen muss – dank Infos über die Windstärke auf dem Mittelmeer, über den Wellengang oder einfach die Tageszeit. Die Geschichten der Geflüchteten wirken realistisch, sind aber nachgestellt. Diese Art des Longform-Storytellings über Podcast und Karten kann fesseln, indem es Emotionen überträgt statt einfach nur Bilder zu liefern, hinter denen wir das bereits Bekannte vermuten. Die Menschen verbringen laut Killing 20 Minuten auf der Plattform, Hass im Netz habe sie dafür nicht bekommen.

  1. Slow Journalism, Tortoisemedia.com

Das Motto des Gründers Jon Hill: „Slow Down, Wise Up“. Tortoise Media bietet drei Produkte an: Einen langsamen Newsfeed mit  fünf Stücken, die die wichtigsten Themen des Tages in Text und Video aufschlüsseln. Dann eine öffentlich zugängliche aufgezeichnete Redaktionskonferenz, um Themen diskutieren zu können und den Kontext besser zu erklären. Und auch eine Printausgabe, eher Buch als Magazin. Aufgeteilt in fünf große Bereiche: Tech, Finanzen, Identität und Langlebigkeit. Wie der Name sagt, geht es darum, sich mit seinem Schildkrötenpanzer gegen die Informationsfülle abzuschirmen und runterzufahren.

  1. Entertainment für eine andere Welt, vollehalle.de

„Zweifel nie daran, dass eine Handvoll motivierter Leute etwas verändern kann“. Mit diesen Worten hat ein Panel angefangen, das mich direkt zum Nachdenken gebracht hat. Eigentlich war es eher eine kleine Aufführung mit der Message: Es ist nicht der Klimaschutz, der unseren Wohlstand bedroht, sondern der Klimawandel. Es geht so nicht weiter, verlass dich nicht auf andere, Politiker, Wirtschaftsfunktionäre, das kannst du konkret tun. Zack. Aufmerksamkeit da. Das Team um den Journalisten Kai Schächtele hat es geschafft, ohne eine Sekunde zu langweilen, das Thema aktiver Klimaschutz in die Köpfe einzumeißeln. Mit konkreten Ansätzen, die hängenbleiben. Mit Video-Botschaften, kleinen Dialogen, einer markigen Präsentation und Humor an den richtigen Stellen. Die Idee ist nicht neu, aber gutes Entertainment funktioniert doch einfach immer.

Homo Digitalis auf dem Affenfelsen

Too long, didn’t read. Wer bis hierher kam, der hat wahrscheinlich verstanden, warum sich knapp 25.000 Menschen ganz old-school in die Bahn gesetzt haben, um dieses Jahr zur re:publica zu fahren und noch mehr Input über die Zukunft der Medien zu bekommen.

Ein Sinnbild für die kurze Aufmerksamkeit habe ich in der Mitte des Festival-Geländes gefunden: Der „Affenfelsen“. Ein Ort aus zusammengesteckten Kisten, aufgebaut um eine kleine Bühne herum. Mit Plätzen zum Durchatmen, Arbeiten oder Austauschen, wenn man mal gerade nicht still sein und zuhören will. Der Platz erinnert an diese Felsen im Zoo, wo die Affen sich gegenseitig lausen. Keiner lauste sich, viele tauschten sich aus. Die meisten taten das aber digital, über Twitter und Linkedin, wischten über den Touchscreen, verloren in den Tiefen des Instagram-Feeds, der reale Raum verschluckte ja ohnehin die meisten Worte.